Antisemitismus bedroht die europäischen Werte
Im aktuellen Podcast #2021JLID spricht Shelly Kupferberg mit Katharina von Schnurbein, der Antisemitismusbeauftragen der Europäischen Kommission. In dieser Aufgabe hält sie von Brüssel aus Kontakt zu jüdischen Gemeinden und Organisationen in der gesamten EU und entwickelt unter anderem Strategien zur Bekämpfung von Antisemitismus oder zur Unterstützung jüdischer Kultur in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Ein Gespräch darüber, wie europäische Vorhaben vor Ort Wirklichkeit werden, wie vielfältig jüdisches Leben in Europa ist – und wodurch es bedroht wird.
Die Europäische Kommission hat im Oktober des vergangenen Jahres eine umfangreiche „Strategie gegen Antisemitismus“ verabschiedet. Dieses Papier ist nicht nur eine Kampfansage an alle Formen von Judenhass. Es beinhaltet über 70 Initiativen, mit denen antisemitische Hetze im Netz vorgebeugt, jüdisches Leben gesichert und Bildungsprogramme sowie das Holocaustgedenken unterstützt werden sollen. Diese Strategie umzusetzen, sowohl nach innen, in die europäischen Strukturen, wie auch nach außen in die einzelnen Mitgliedstaaten hinein, zählt zu den Aufgaben von Katharina von Schnurbein. Seit 2015 ist sie die Antisemitismusbeauftragte der Europäischen Kommission. Die studierte Politikwissenschaftlerin und Slawistin hat sich schon als Jugendliche für Europa begeistert und nennt die EU „ein wirkliches Friedensprojekt“. Aufgewachsen ist sie im Bayerischen Wald, nur zwanzig Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, und in Prag sammelte sie auch ihre ersten Erfahrungen mit Kulturaustausch in Europa.
Von Schnurbein ist Nichtjüdin, wuchs aber in einem Elternhaus auf, in dem es rege Kontakte zu Jüdinnen und Juden gab – zu Holocaustüberlebenden in der Region, und zu Freunden der Familie aus Israel, die regelmäßig in Bayern zu Gast waren. Das hat das Interesse der Europapolitikerin an jüdischer Geschichte und Gegenwart geweckt. Von 2010 bis 2014 war sie Beraterin des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso – zuständig für den Dialog mit Religionen und Weltanschauungen. Wie jüdisches Leben in Europa im Laufe der Jahre an Vielfalt und Intensität gewonnen hat, wie sich zugleich aber auch neue Formen von Antisemitismus gebildet haben und was dagegen zu tun ist, darüber spricht Schnurbein im neuen Podcast #2021JLID mit Shelly Kupferberg.
Dabei geht es auch um Deutschland und den Einfluss von kulturellem Austausch für die Entwicklung jüdischen Lebens in der Gegenwart.
„Deutschland ist natürlich durch ‚1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland‘ ein Paradebeispiel“, sagt Katharina von Schnurbein. „Ich glaube, was sich da in den vergangenen 1,5 Jahren getan hat, auch im Selbstverständnis der jüdischen Gemeinden, ist wirklich beeindruckend.“ Sie sehe in den vielen Aktivitäten zum Festjahr einen Startpunkt, aus dem sich hoffentlich noch viel entwickeln werde. Neue Strukturen dafür seien jedenfalls geschaffen worden.
Doch hört von Schnurbein auch von den Problemen jüdischer Gemeinschaften in den unterschiedlichen Mitgliedsstaaten. Sicherheit sei überall ein Thema, auch die Altersstruktur in vielen Gemeinden, das Thema Abwanderung und neue Formen von Antisemitismus.
„Das Thema Corona war natürlich auch ein großes Thema“, sagt die Europapolitikerin. „Zum einen der direkte Effekt auf die jüdischen Gemeinden und Holocaust-Überlebenden, die besonders gefährdet waren, zum anderen die Holocaust-Trivialisierung – auch auf den Straßen – wenn Ungeimpfte den Davidstern trugen – das ist auch eine Herausforderung, die von der jüdischen Seite nochmal anders gesehen wird als von der Gesamtbevölkerung.“
Angesprochen auf Länder mit rechtskonservativen Regierungen wie Polen oder Ungarn, plädiert von Schnurbein für einen differenzierten Blick, der die besondere historische Entwicklung dieser Länder berücksichtigt. Doch benennt sie die Probleme klar: „Ungarn hat ja die größte jüdische Gemeinde in Zentraleuropa. Jüdisches Leben ist sichtbar, auch orthodoxes jüdisches Leben. Auf der Arbeitsebene gibt es da sehr gute Kontakte und die Regierung unterstützt jüdische Einrichtungen, Renovierungsprojekte usw. Auf der anderen Seite werden aber auch ganz gezielt Verschwörungsmythen gestreut – auch von Vertretern der Regierung.“
Katharina von Schnurbein, mit einem Niederländer verheiratet und Mutter von vier Kindern, glaubt an das Friedens-Projekt Europa. „Auch wenn wir im Moment gerade vor einer Situation stehen mit der Ukraine und Russland, die wir nie für möglich gehalten hätten, ist es doch so, dass auf diesem Kontinent und in der Europäischen Union Frieden herrscht seit der Gründung der EU. Vielleicht haben wir das für zu selbstverständlich genommen, das ist ein Thema, mit dem wir uns zunehmend beschäftigen. Die Demokratie und unsere Werte wollen verteidigt werden. Dafür müssen wir uns jeden Tag immer wieder einsetzen. Damit das, was erreicht wurde, so bleibt und weiterentwickelt wird.“ Dazu müsste es auch immer wieder darum gehen, innerhalb Europas, zwischen West- und Zentraleuropa Brücken zu bauen und die Gemeinsamkeiten zu sehen. Auch die Pandemie habe schließlich gezeigt, dass der gemeinsame Ansatz Erfolg verspreche.
„Das motiviert mich gerade auch in Bezug auf den Antisemitismus“, sagt von Schnurbein, „der ja zunächst natürlich Jüdinnen und Juden betrifft, aber letztendlich auch Ausdruck dessen ist, dass die Demokratie und unsere Werte bedroht sind.“