07.02.2022

Junge Leute interessieren sich mehr für die NS-Zeit als ihre Eltern

Junge Erwachsene machen sich viele Gedanken über Rassismus, Ausgrenzung und Radikalisierung in der Gesellschaft. Das scheint auch ihr Interesse an der Zeit des Nationalsozialismus zu wecken, wie zwei aktuelle Studien zeigen. Allerdings blicken manche Vertreter der Generation Z mit einer Mischung aus Faszination und Angst zurück – und ziehen fragwürdige Parallelen. 

Junge Menschen interessieren sich weit mehr für die Zeit des Nationalsozialismus als vielfach angenommen. Das ist das überraschende Ergebnis zweier Jugendstudien, die sich aktuell   mit den Zugängen und der gewandelten Einstellung junger Leute zur Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen. 

In einer tiefenpsychologischen Untersuchung, die die Arolsen Archives beim Kölner Rheingold-Institut in Auftrag geben haben, gaben 75 Prozent in der Altersgruppe zwischen 16 bis 25 Jahren an, sich für die Thematik zu interessieren. Damit ist das Interesse der sogenannten Generation Z sogar höher als das der Elterngeneration. In der Vergleichsgruppe der heute 40- bis 60-Jährigen bekundeten 66 Prozent, Interesse an der Zeit des NS zu haben. 

Auch in einer repräsentativen Befragung, die das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld für das MEMO-Projekt der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) vornimmt, empfindet es der größte Teil der befragten 16- bis 25-Jährigen als „eher wichtig“ oder „sehr wichtig“, dass sich die Gesellschaft mit ihrer Geschichte auseinandersetzt. Das ist eine Quote von 84,8 Prozent in der jungen Generation. Auch konkret nach der deutschen NS-Vergangenheit gefragt, zeigt nur ein kleiner Teil der Befragten (8,7 %) fehlendes Verständnis dafür, warum sie persönlich sich auch heute noch mit diesem Teil der deutschen Geschichte befassen sollten. Rund drei Viertel der Befragten (76,5 %) stellen den Sinn dieser Auseinandersetzung nicht in Frage.

„Ich kann nichts für damals, aber ich kann etwas für heute“

Allerdings haben sich die Motive für das Geschichtsinteresse verändert. Die Generation Z fühlt sich laut den Tiefeninterviews aus der Rheingold-Studie befreit von dem Gefühl persönlicher Schuld. Die Befragten treffen Aussagen wie: „Ich kann nichts für damals, aber ich kann etwas für heute“, in denen Distanz zur Vergangenheit, aber auch Verantwortungsgefühl für die eigene Gegenwart deutlich werden. Die junge Generation fühlt sich also weniger zur Erinnerung verpflichtet, blickt vielmehr mit drängenden Fragen aus ihrer aktuellen Lebenswirklichkeit zurück. Themen wie Rassismus, Radikalisierung und Ausgrenzung spielen im Alltag der jungen Menschen eine große Rolle. 

Auch zwei Drittel der jungen Befragten aus der MEMO-Studie sorgen sich um den Zusammenhalt in Deutschland und um das Ausmaß an Ausgrenzung in der Gesellschaft. Viele Befragte geben auch an, sich selbst im Alltag aufgrund von Merkmalen wie ihrem Geschlecht, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion diskriminiert zu fühlen.

Allerdings bringt der Zugang über die eigene Lebenswelt auch Unschärfen mit sich. In den Tiefeninterviews unterscheiden manche Jugendliche nicht klar zwischen Rassismus und Antisemitismus, obwohl den meisten bewusst ist, dass Juden*Jüdinnen zur größten Opfergruppe des Nationalsozialismus zählen.

Manche Befragte mit Migrationshintergrund, oft selbst mit Themen wie Alltagsrassismus konfrontiert, stufen die eigenen Erfahrungen auch als Parallele zur Vergangenheit ein. Dabei sehen sie sich eher auf einer möglichen Opferseite. Sie erkennen Deutschland als ihre Heimat an, fragen sich aber, wie individuell sie sein dürfen oder inwieweit sie sich anpassen müssen

Geschichte über Geschichten erzählen 

Der Zugang zur Geschichte aus dem eigenen Erleben heraus verändert auch die Erwartungen, die junge Leute an die Geschichtsvermittlung haben. Die Generation Z will laut Rheingold-Untersuchung Einblicke in konkrete Lebenswirklichkeiten bekommen und reale Beispiele kennenlernen. Außerdem fordern sie einen offenen Austausch und eine Diskussionskultur ohne „moralischen Zwang“, in dem die Positionen nicht von vornherein festliegen. Vertreter der Generation Z finden auch die Auseinandersetzung mit den Biografien von Identifikationsfiguren wie Anne Frank oder Oskar Schindler weiter wichtig.

Geschichtsinteresse als „Mutprobe“

Wenig überraschend sind es vor allem digitale Kanäle, über die junge Menschen heute Zugang zur Geschichte suchen. Teilnehmer*innen der MEMO-Studie nennen häufig etwa YouTube und Instagram. Traditionelle Medien wie Sachbücher oder Romane werden von jungen Leuten weniger konsumiert als von der Allgemeinbevölkerung. Dagegen erscheinen Spiel- und Dokumentarfilme sowie Serien auch für junge Menschen als zentraler Zugang zur Zeit des Nationalsozialismus. 

In dem, was sie dann über die Zeit des Nationalsozialismus erfahren, sieht die Generation Z laut der Rheingold-Interviews ein extremes Gegenbild zu ihrer eigenen demokratischen Welt voller Möglichkeiten in Sachen Berufswahl, Unterhaltung, Konsum. Der Führerkult, die Pflicht zum unbedingten Gehorsam und zum völkischen Denken, macht die Vergangenheit während der NS-Diktatur für die jungen Erwachsenen laut der Autoren von Rheingold  zum „ebenso faszinierenden wie schrecklichen Gegenbild“. Darum erleben sie den Umgang mit diesem Abschnitt der deutschen Geschichte als eine Art „psychologische Mutprobe“. Sie empfinden eine Mischung aus Faszination und Angst. Das führt zu Aussagen in den Rheingold-Interviews wie: „Die NS-Zeit war so absurd und grausam, manchmal fällt es mir schwer, diese Vorfälle wirklich zu glauben.“

Während sich laut Rheingold ein Großteil der Gen Z nach der Auseinandersetzung entschieden von der NS-Zeit distanziert, gibt es auch Anzeichen dafür, dass ein kleiner Teil der Gen Z mit rechtem Gedankengut sympathisiert – ohne sich offensiv dazu zu bekennen. Die Autoren der Studie vermuten, dass manche Jugendliche sich von den vielen Optionen und komplexen Herausforderungen ihrer Gegenwart überfordert fühlen und sich nach einfachen und klaren Antworten sehnen.

Eigene Familiengeschichte wird zum blinden Fleck

Zudem zeichnet sich in der Repräsentativbefragung des MEMO-Projekts ab, dass neben dem hohen allgemeinen Interesse an der NS-Vergangenheit die Bedeutung der eigenen Familiengeschichte eher abnimmt. So geben je über ein Viertel der Befragten an, nicht zu wissen, ob Vorfahren von ihnen zu den Täter*innen oder zu den Opfern während der Zeit des Nationalsozialismus zählten. Diese und vergleichbare Werte fallen unter jungen Erwachsenen durchgehend höher aus als in der deutschen Allgemeinbevölkerung. Das untermauert Thesen, wonach Wissens- und Bewusstseinslücken in deutschen Familiengeschichten zunehmen. 

Corona und die Relativierung von Geschichte

Welches Ausmaß Geschichtsvergessenheit annehmen und wie das Antisemitismus Vorschub leisten kann, hat sich etwa bei Demos gegen die aktuelle Corona-Politik gezeigt. Unmittelbare Vergleiche der Einschränkungen von Grundrechten während der Pandemie mit der Diktatur in der Zeit des Nationalsozialismus lehnt der größte Teil der Befragten in der MEMO-Jugendstudie ab (67,2 Prozent). Allerdings empfinden 22,6 Prozent der Befragten derartige Vergleiche als berechtigt oder grenzen sich nicht eindeutig von ihnen ab. Etwa jede*r Zehnte gab keine Antwort auf diese Frage. Auch an anderen Stellen in den vorläufigen Ergebnissen der Studie zeigen sich unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen fehlende Abgrenzung von revisionistischen, ausgrenzenden und menschenfeindlichen Einstellungen.