Eine Veranstaltung des Projekts:
Shared History
Einen „Mann der Rede und der Tat“ nannte Heinrich Heine den Literaturhistoriker Leopold Zunz. Er habe „geschaffen und gewirkt, wo andere träumten und mutlos hinsanken“. Zunz war die treibende Kraft hinter dem „Verein für Cultur und Wissenschaft des Judentums“, der eine Erneuerung des Judentums anstrebte. Unbeirrt vom deutschtümelnden Nationalismus, setzte er sich dafür ein, die Juden durch Akkulturation an die europäische Kultur heranzuführen. Mit der Titelseite zu seinem Buch Etwas über die rabbinische Litteratur erinnert das Leo Baeck Institut in seiner virtuellen Ausstellung „Shared History: 1700 Jahre jüdisches Leben im deutschsprachigen Raum“ an den Begründer der Wissenschaft vom Judentum.
Von der Brille des großen Philosophen bis zum G-Punkt
58 ikonografische Objekte, die in chronologischer Reihenfolge wöchentlich enthüllt werden, erschließen das jüdische Leben im deutschsprachigen Raum als gemeinsam erfahrene Geschichte. Beim Betrachtenden lassen die einzelnen Artefakte und die Assoziationen, die sie auslösen, Gedanken- und Gefühlswelten aufgehen wie etwa bei Moses Mendelssohn, dem Philosophen der Aufklärung, dessen Brille zu sehen ist. Beginnend mit dem frühen Zeugnis des Kaiserdekrets, das um 321 von einer blühenden jüdischen Gemeinde erzählt, über die Lebenserinnerungen von Moritz Lazarus, der entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Psychologie hatte und es als seine Lebensaufgabe betrachtete, „die innige Verschmelzung von deutschem und jüdischem Geist“ zu fördern, bis zu dem von Daniel Libeskind entworfenen Jüdischen Museum in Berlin spannt sich der Bogen.
Essays ergänzen und erweitern die eigenen Vorstellungen. Eine Vielfalt an Lebensbereichen und Wissensgebieten wird angesprochen. So rufen Salvarsanampullen den Nobelpreisträger Paul Ehrlich ins Gedächtnis, der mit Salvarsan das erste Therapeutikum gegen Syphilis entwickelte. Und Gräfenberg-Ringe erinnern an den Gynäkologen Ernst Gräfenberg, nach dem der sogenannte G-Punkt benannt ist und der mit den ringförmigen Intrauterinpessaren um 1928 ein Verhütungsmittel für Frauen erfand.
Jedes Objekt eröffnet einen faszinierenden Themenkosmos
Der Facettenreichtum ermöglicht es, auch gegenwärtig herausfordernde Themenbereiche zu berühren. Die Themen Akkulturation und Inklusion schwingen bei den Artefakten ebenso mit wie die Themen Verfolgung, Flucht und Migration. Ein silberner Zeitstrahl führt an den Objekten entlang. 1924 betonte Hans Karl Breslauers expressionistischer Stummfilm Die Stadt ohne Juden gespenstisch prophetisch die Wichtigkeit friedlichen Zusammenlebens. Doch dann bricht der Zeitstrahl: „25. Mai. Blätter als Spinat. Menschen, die am Straßenrand Unkraut abreißen, auf den Wiesen Blätter und Löwenzahn etc. pflücken, angehalten und gezwungen wieder herzugeben. Das ganze Grün gilt als Viehfutter. – Wegen Flecktyphus unter den Hergekommenen Quarantäne! 50 Menschen in 1 Zimmer, auf dem Boden schlafend!“ Der Schriftsteller Oskar Rosenfeld, der in Wien das erste Jüdische Theater gründete, die zionistische Wochenzeitung Die neue Welt leitete und zahlreiche jiddische Schriften ins Deutsche übersetzte, wurde 1941 aus Prag, wohin er emigriert war, nach Łódź/Litzmannstadt deportiert und wirkte im Rahmen der jüdischen Selbstverwaltung des Ghettos am kollektiven Tagebuch, der sogenannten Łódźer Ghetto-Chronik, mit. Der Holocaust stellt die Betrachtenden der Ausstellung vor eine schwarze Wand.
Die Robe von Fritz Bauer gemahnt an das weite Feld von Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Gegen alle Widerstände führte Bauer als hessischer Generalstaatsanwalt von Dezember 1963 bis August 1965 in Frankfurt den ersten Auschwitz-Prozess in Westdeutschland und setzte sich für den Aufbau einer demokratischen Justiz ein.
Und mit Gustav Klimts berühmtem Gemälde Adele Bloch Bauer I, das der österreichische Staat 2006 nach einem spektakulären Prozess an die rechtmäßigen Eigentümer zurückgeben musste, wird das Thema Restitution aufgeworfen.
Museen wie das Deutsche Historische Museum sowie die Jüdischen Museen in Berlin, Köln, Wien, Amsterdam und Bratislava, Archive und Forschungsinstitute wirkten an der Ausstellung mit, um das Thema in seiner Komplexität und Verflochtenheit anschaulich werden zu lassen.