23.02.2021

„Viva Diaspora!“

Seine Musik enthält Elemente von Klezmer und Balkanrhythmen. Als am Sonntag um 16.30 Uhr in Das Erste der Festakt zur Eröffnung des Jahres »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« übertragen wurde, war auch ein neues Lied des Frankfurter Musikers Shantel zu hören.

Der Musiker, mit bürgerlichem Namen Stefan Hantel, war von unserem Verein gebeten worden, ein Stück für das Festjahr zu komponieren. Mit »Kids of the Diaspora«, interpretiert von einem internationalen Kreis von Künstlern, werden Elemente jüdischer und südosteuropäischer Musik verbunden, zusammen mit der Botschaft: Kulturen fließen zusammen, mischen sich, ergeben etwas Neues.


Shantel, der selbst Wurzeln in der Bukovina in der heuigen Ukraine hat, war nach eigenen Angaben der erste deutsche Musiker, der in Israel ein Musikvideo produzierte und dort seit den 90er-Jahren regelmäßig auftritt. Wir haben ihm ein paar Fragen gestellt.

1. Worum geht es in „Kids of the Diaspora“?
„waking up this morning and i say, yesterday was just another day. looking at my life and i realize everything i had went just away“ ist meine persönliche Einleitung des Songs. Es sind Worte und Reime. Ich kannte sie von Erzählungen meiner Großmutter. 
Flucht, Vertreibung und Zerstörung beschreiben das Lebensgefühl vieler emigrierter und geflüchteter Menschen. Egal welcher Kultur, Religion oder Hautfarbe sie angehören. Als Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls, man sitzt praktisch immer auf gepackten Koffern. 
Über 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland impliziert natürlich auch eine 2000-jährige Leidensgeschichte, besonders in Deutschland. Das griechische Wort Diaspora bedeutet: Zerstreuung, die Verstreutheit. Dieser Begriff ist in der klassischen Rezeption eher negativ besetzt und mit viel Leid verbunden. Er beschreibt den Verlust der geographischen oder geistigen Heimat von Menschen. Ich möchte in meinem Song den Begriff Diaspora positiv und neu besetzen – mit den Möglichkeiten der Pop-Kultur, wenn es heißt „everybody is a superstar, we are the kids of the diaspora“. 

2. Wie erlebst Du jüdisches Leben in Deutschland?

Jüdisches Leben in Deutschland erfährt seit den 1990er Jahren eine neue und vermittelbare Renaissance. Das hängt auch sehr stark damit zusammen, dass eine jüngere Generation jüdischer Menschen in Deutschland aus vielen verschieden Gründen ein neues Selbstbewusstsein entwickeln konnte. Zum einem gab es eine starke Zuwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, zum anderen konnten sich junge Juden in Deutschland anders und neu definieren. Ein neues jüdisches Selbstbewusstsein entwickelt sich interdisziplinär – beflügelt auch durch Kunst und Kultur. Mir wurde das als Musiker u.a. zum ersten Mal bewusst als ich anfing, auf meinen Bucovina Club Partys und Konzerten jüdische Songs und Melodien zu spielen und diese zu Remixen und auch neu zu arrangieren und zu schreiben. Es waren auf einmal nicht mehr museale stereotype Klezmer Songs, vorgetragen von nicht-jüdischen Menschen im „Stetl-Kostüm“, sondern ebenbürtige Partyhits und Dance-Tracks, die ein junges und experimentierfreudiges, hedonistisches, kosmopolitisches Publikum, jüdisch und nicht-jüdisch, gleichsam begeisterten. 

Der Begriff Diaspora beschreibt nicht nur die Emanzipation vom alten „unsichtbaren“ jüdischen Leben in Deutschland jenseits der Shoah, sondern auch ein neues jüdisches Bewusstsein in Deutschland, das laut, divers und hedonistisch ist. „Viva Diaspora!“ beschreibt ein sichtbares, internationales und kreatives jüdisches Leben in Deutschland und Europa, das in allen gesellschaftlichen Bereichen stattfindet. 

3. Wie ist der Song entstanden? 
Natürlich habe ich lange experimentiert. Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, war keine leichte. Ich wollte einerseits einen tanzbaren Song komponieren, auf den sich hoffentlich viele Menschen einigen können. Andererseits wollte ich dem Thema gerecht werden. Wichtig war es mir, eine gewisse Leichtigkeit beizubehalten. Wortwitz und Ironie sind auch ein sehr gutes und praktisches Mittel, um einem Song eine gewisse universelle Kraft einzuhauchen. Ich lege sehr großen Wert darauf, dass mein Song „Kids of the Diaspora“ auch international verstanden, gehört und verbreitet wird. Es handelt sich um eine universelle Botschaft, eine humanistische Hymne. 

Gerne benutze ich auch verschiedene Sprachen in meinen Songs als Reminiszenz an die Vielfalt der Kulturen. „Kids of the Diaspora“ betrifft viele Menschen verschiedenster Herkunft und Kulturen in Deutschland. Im besten Fall gelingt es uns, so viel kulturelle Vielfalt in Deutschland und Europa abzubilden wie möglich. 

4. Was war zuerst da: die Melodie oder der Text? 
Die Melodie kam zuerst. Das ist der Vorteil, wenn man Dance-Music macht. Du brauchst erstmal eine Melodie, die trägt bzw. die auch rhythmisch funktioniert. Ich wollte die Symbiose aus beiden. Ein mehr westlich und elektronisch geprägtes Beat-Arrangement, dass auch auf Grundlage von östlichen und mediterranen Melodien funktioniert. Bei mir ist es oft eine Verschmelzung aus Tradition und Moderne. Ich liebe die Emotionalität traditioneller Musik, möchte aber keine Folklore oder Weltmusik machen. Wichtig ist es, etwas zu kreieren, dass genug Kraft und Energie entwickelt, um im musikalischen Mainstream zu bestehen. Dabei möchte ich aber keine Kompromisse eingehen. Der Titel braucht einen „Smell“, eine Seele und vor allen Dingen Authentizität. Das war mir immer das Allerwichtigste. Meine Musik kommt aus sehr lokalen und urbanen Zusammenhängen mit starker globaler Anbindung. Es gibt nichts Besseres für einen Musiker als die Erfahrung, dass der Song auf der ganzen Welt gehört und verstanden wird, auch wenn man zum Beispiel die Sprache nicht versteht. 
Da waren Andrei und ich uns sofort einig, dass wir eine universelle Hymne benötigen, die auch mitgesungen werden kann. Sowas kannte Andrei bereits von meinen Konzerten. Mein Song „Disko Partizani“ ist ein sehr gutes Beispiel hierfür. 

5. Was bedeutet Dir das Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ persönlich?
Für mich persönlich ist es eine große Freude und Ehre, ein Teil dieses Festjahres zu sein. Nicht nur allein deshalb, weil meine eigene Familiengeschichte geprägt ist von der Zerrissenheit meiner Biografie. Ich denke, es ist einfach wichtig, Judentum in Deutschland lebendig und laut zu leben und erlebbar zu machen – auch jenseits von Glauben und Spiritualität. Für mich ist es eine 2000-jährige Migrationsgeschichte, die sinnbildlich dafür steht, in welchem Maße eine migrierte Kultur eine Gesellschaft zivilisatorisch aufwerten kann. 

6. Was wünschst Du Dir für die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland?
Jüdisches Leben in Deutschland war und ist maßgeblich daran beteiligt, aus Deutschland die demokratische Kulturnation zu machen, wie wir sie heute kennen. Auch wenn diese Geschichte geprägt ist von Leid und Verfolgung. Auch wenn heute immer noch eine latente antisemitische Bedrohung in Deutschland existiert. Es ist die Aufgabe dieser gegenwärtigen Generation, sich nicht zu verstecken, sondern laut zu werden und auch diese positive, starke Haltung als relevante Gegenregulative zu betrachten und zu nutzen.

7. Welche Themen treiben Dich derzeit um?
Ich möchte die Dekonstrunktion des Begriffs „kulturelle Minderheit“ herbeiführen – mit den Mitteln der Kunst und der Musik. Für mich gibt es innerhalb von Kultur keine Minderheit. Es gibt nur Kultur von Menschen für Menschen mit verschiedenen Gewohnheiten, egal welcher Herkunft, Religion oder Hautfarbe. In Deutschland werden immer noch Menschen verschiedenster Herkunft, Hautfarbe oder Religion klassifiziert. Dekonstruieren wir diese Haltung. Schaffen wir das einfach ab! Es sollte  keine marginalisierten Gruppen geben. Als Musiker bleibt mir nur diese Botschaft immer wieder und wieder zu vermitteln und dabei meine eigene Geschichte zu erzählen, mit den Möglichkeiten der Musik. Man kann Menschen immer positiv von einer guten Idee begeistern, wenn man ihren Kern emotional aufwertet, eine sinnliche Erfahrung kreiert. Das funktioniert mit Musik sehr gut. Dabei fühle ich mich sehr privilegiert diese Botschaft von Deutschland aus zu formulieren. Deutschland, das prosperierende Einwanderungsland in Europa mit einer 1700-jährigen jüdischen Geschichte.